© Claudia Neumann
Durch Zufall, sagt Claudia Neumann, sei sie als Kind mit Fußball in Kontakt gekommen. Heute ist sie die bekannteste deutsche Live-Kommentatorin von Sportereignissen. Ein Gespräch über Geschlechterkampf, sexistische Hasskommentare und Quotenfrauen.
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Als erste Frau hat sie 2016 eine Fußball-EM der Männer kommentiert und dafür einen gewaltigen Shitstorm beleidigender, sexistischer Äußerungen auf Social Media erlebt. Das wiederholte sich 2018 bei der Weltmeisterschaft – und motivierte die heute 58-Jährige zu ihrem bemerkenswerten Engagement für Frauen im Rahmen der Initiative »Fußball kann mehr«.
Neumann wurde bei der Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich als erste Frau für den deutschen Live-Kommentar eines Männerturniers eingesetzt.
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Frau Neumann, als Sport- und Fußballkommentatorin sind Sie Pionierin. War Ihnen das in Ihren ersten Berufsjahren schon in dem Maße bewusst?
Nicht im Geringsten. Es lag überhaupt nicht in meinem Selbstverständnis, mich mit solchen Themen zu beschäftigen. Es war für mich eine Frage der Leidenschaft und der Kompetenz – bei allem Respekt davor, dass ich wie alle anderen Berufseinsteiger noch viel zu lernen hatte. Daraus eine Sonderrolle zu interpretieren, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.
Sie sind 1964 geboren worden. Wie haben Sie generell in Ihrer Lebensrealität Männer- und Frauenbilder wahrgenommen?
Mit Rollenbildern habe ich mich nie bewusst beschäftigt. Ich fand es zwar komisch und teils unfair, dass Frauen und Mädchen nicht auch all das tun sollten, was Männer machten, wie zum Beispiel Fußballspielen. Aber ich habe das nicht hinterfragt. Als junge Erwachsene habe ich mitbekommen, dass Frauen vor nicht allzu langer Zeit nicht wählen durften und ihren Ehemann um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie arbeiten gehen wollten. Da hat sich mir im Nachgang die Frage gestellt: Wie abstrus ist das denn?
Anfang der 90er-Jahre gab es vor allem im Sportjournalismus aufgrund der Privatsender eine Art Aufbruchszeit.
Hat es im Beruf für Sie persönlich eine Rolle gespielt, vor allem mit Männern zu arbeiten oder möglicherweise sogar in Konkurrenz zu stehen?
Gar nicht. Anfang der 90er-Jahre gab es vor allem im Sportjournalismus aufgrund der Privatsender eine Art Aufbruchszeit. Die Sender und die Kollegen waren jung und innovativ. Es war völlig anders, als man es von den beiden öffentlich-rechtlichen Kanälen kannte.
Im Rahmen einer Hospitanz bin ich mit Kollegen zum Fußball gefahren und in den Gesprächen haben die Männer gemerkt: »Oh, die versteht genauso viel vom Fußball wie wir.« Dann haben wir gemeinsam Fußball gespielt und sie haben erkannt: »Oh, die spielt genauso gut Fußball, wie wir«, auch wenn ich sicherlich nicht so athletisch war. Ich war einfach eine von ihnen und das war bei jedem Arbeitgeberwechsel der Fall. Das war nicht aufgesetzt, sondern lag in meiner Persönlichkeit.
Ich habe nie Ressentiments erlebt. Später dann habe ich eher von sehr kompetenten Kolleginnen aus dem Printjournalismus erfahren, dass sie sich benachteiligt gefühlt haben, weil zum Beispiel zu großen Fußballturnieren nur die Männer fahren durften.
»Der einzig erkennbare Unterschied zwischen Mann und Frau ist die Stimme.«
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Gibt es denn aus Ihrer Sicht zwischen Kommentatoren und Kommentatorinnen einen Unterschied, also einen eher »männlichen« und einen eher »weiblichen« Stil des Kommentierens von Spielen?
Ein hochspannendes Thema. Der einzig erkennbare Unterschied zwischen Mann und Frau ist die Stimme. Ich persönlich würde den Stil daher nicht »weiblich« oder »männlich« nennen. Vielmehr sind wir alle sozialisiert mit einem Kommentarstil. Ebenso wie der Zeitgeist verändert sich dieser mit den Jahren. Früher war es sehr zurückgenommen, dann kam die Unterhaltung durchs Privatfernsehen dazu, momentan bewegen wir uns auf dem Gipfel der Emotionalität. Man muss herausfinden, wie man sich selbst am wohlsten fühlt und authentisch ist.
Wie ich kommentiere, so bin ich, so ist meine Authentizität. Letztlich hat jeder andere Lieblingskommentatoren, aber das ist sein individueller Geschmack. Das ist keine Frage der Qualität, sondern von Persönlichkeit, Stil und Authentizität. Objektive Qualitätsmerkmale beziehen sich eher auf Kriterien des Kommentar-Handwerks.
Wir, die öffentlich arbeiten, haben eine besondere Sorgfaltspflicht, weil wir beispielgebend sind.
Nicht nur Stile verändern sich. Auch die Sprache unterliegt einem stetigen Wandel. Wie sehen Sie Ihre Entwicklung – insbesondere genderspezifisch?
Wir befinden uns in einem veritablen Gesellschaftswandel und einem riesigen Lernprozess. Mit diesen Themen muss ich mich natürlich auseinandersetzen, wenn ich in irgendeiner Form publiziere. Ich respektiere diejenigen sehr, die sagen: »Ich fühle mich durch diese Begrifflichkeit ausgeschlossen«, oder: »Mir geht so etwas nahe«. Das sind für mich die Gradmesser.
Ich versuche, sehr sensibel mit Sprache umzugehen. Aber ich bin weit weg vom moralischen Zeigefinger. Wichtig ist stets ein Perspektivwechsel, um zu verstehen, warum sich jemand angegriffen fühlt. Denn in dem Moment, in dem eine Begrifflichkeit einen Menschen verletzt, muss ich mir doch Gedanken darüber machen und versuchen, sie zu vermeiden. Wir, die öffentlich arbeiten, haben eine besondere Sorgfaltspflicht, weil wir beispielgebend sind. Es gilt, diese Debatten ohne Schärfe und mit hoher Sensibilität zu führen.
»Ich hätte diesen Schritt, eine Männer-EM zu kommentieren, für mein eigenes Selbstverständnis nicht machen müssen.«
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2016 haben Sie als erste Live-Kommentatorin eines Männerturniers sehr negatives Feedback auf Social Media erhalten, das überhaupt nicht sachlich motiviert gewesen ist. Haben Sie so etwas vor der EM 2016 schon einmal erlebt?
All diese Geschichten, die ab 2016 passiert sind, kannte ich nicht. Aber ich wusste, dass sie kommen würden. Wir waren nicht blauäugig, sondern haben uns sehr intensiv darauf vorbereitet. Ich hätte diesen Schritt, eine Männer-EM zu kommentieren, für mein eigenes Selbstverständnis nicht machen müssen.
Angefangen habe ich mit Live-Fußball ja 2008 bei Olympia, aber vor allem auch mit Frauenfußball. Hier lag auf der Heim-WM 2011 ein größerer Fokus und da gab es fast ausschließlich positives Feedback. Allerdings war Social Media damals noch in den Anfängen, und diese Art der Kritik hat sehr viel mit Social-Media-Verhalten zu tun.
Hätte eine jüngere, unerfahrenere Kollegin den ersten Schritt machen müssen, hätte das fatale Folgen haben können.
Warum haben Sie dann doch 2016 die Männer-EM kommentiert?
Damals haben Sportwissenschaftler in Studien hinterfragt, ob die Gesellschaft reif ist für Frauen im Männerfußball-Live-Kommentar. Mit unseren Chefs war ich so verblieben, dass sie mir das handwerklich ohne weiteres zugetraut hätten, aber meinten, die Zeit sei noch nicht reif. Ich selbst hatte gar nicht diesen wahnsinnigen Ehrgeiz. Irgendwie spitzte sich das Thema jedoch zu, es kam dann doch etwas Druck von der Chefredaktion, die die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Und ich war ja da, ich musste nicht extra gesucht werden.
In einem inneren Dialog habe ich mit mir ausgemacht, dass eine den Anfang machen muss. Eigentlich war ich prädestiniert: Ich kann den Gegenwind aushalten und bin etabliert in der Branche. Hätte eine jüngere, unerfahrenere Kollegin den ersten Schritt machen müssen, hätte das fatale Folgen haben können. Nicht jeder hält das aus. Also reifte ein Gefühl von: »Ich will und muss das jetzt machen.«
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In den sozialen Medien entwickelte sich ein Shitstorm sexistischer Kommentare, der 2018 bei der WM und beim Champions-League-Spiel zwischen Real Madrid und Paris Saint-Germain seine Fortsetzung fand…
Es war genauso wie erwartet. Was dann bei den weiteren Turnieren und mit der weiteren Überhöhung passiert ist, führte zu dem, wofür ich mich heute engagiere. Und weder meine Haltung zur Arbeit noch meine Leidenschaft für die Sache haben sich dadurch verändert.
Sie haben mal gesagt, dass Sie das Thema »Frauen im Fußball« rund 25 Jahre lang weggeschoben haben und bezeichneten sich als »Vorbild wider Willen«. Warum?
Es stand einfach nicht auf meiner Agenda. Aber ich sage heute eher reumütig und beschämt, dass ich so lange so eindimensional in der Sportlandschaft unterwegs war. Letztlich habe ich mir gesagt, dass es nie zu spät ist, damit anzufangen. Heute ist es für mich völlig selbstverständlich, mich zu engagieren und für junge Frauen den Weg zu ebnen, damit es in Zukunft anders läuft. Das ist sehr ausfüllend.
Dass unser Start mitten in der Krise des Deutschen Fußball-Bundes fiel, war reiner Zufall.
Sie haben die Initiative »Fußball kann mehr« gegründet. Woran arbeiten Sie aktuell mit Ihren Kolleginnen?
Wir haben uns kürzlich als gemeinnützige GmbH institutionalisiert und gehen damit den nächsten Schritt gemeinsam mit vielen Unterstützern und Kooperationen aus Wirtschaft, Politik, Medien und Sport. Das wird eine große und gute Sache. Der Unterstützerkreis ist riesig und geht weit über die neun Frauen hinaus, mit denen wir gestartet sind. Dank unserer unabhängigen Rolle können wir nicht nur Druck ausüben, sondern selbst mit anpacken, helfen und dabei unterstützen, in der Öffentlichkeit und in der konkreten Umsetzung die Themen weiter voranzutreiben. Der Launch unserer neuen Plattform steht kurz bevor.
Was war die Initialzündung zur Gründung von »Fußball kann mehr«?
Zu Beginn der Corona-Zeit, als plötzlich kein Live-Sport mehr stattfinden konnte, habe ich eine Doku gedreht, in der ich mich mit Frauen im Profifußball beschäftigt habe. Ich habe mir spannende Gesprächspartnerinnen herausgesucht, unter anderem mit der ehemaligen Torhüterin und Funktionärin Katja Kraus, Ex-Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus-Webb, der Aufsichtsratsvorsitzenden des FC St. Pauli, Sandra Schwedler, und der Vorsitzenden der Faninitiative »Unsere Kurve«, Helen Breit. Eins ergab das andere, bis die Initiative entstand. Katja hat das besonders angeschoben.
Dass unser Start mitten in der Krise des Deutschen Fußball-Bundes fiel, war reiner Zufall. Der DFB war für uns auch nur einer von vielen Adressaten. Uns geht es um den gesamten Fußball. Bevor wir an die Öffentlichkeit gegangen sind, haben wir mit DFB, DFL und fast allen Bundesligisten gesprochen. Wir sind im Dialog in die Sache gegangen.
Was ganz wichtig ist: Alle acht Forderungen, die wir veröffentlicht haben, sind in einem monatelangen Prozess entstanden, weil jede von uns sich komplett mit jedem noch so kleinen Part identifizieren können sollte. Wir haben es uns nicht einfach gemacht, sondern wirklich alles auseinandergenommen. Meine Einstellung zur Quote hat sich in der Zeit zum Beispiel komplett verändert.
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Inwiefern?
Ich habe denselben Anfängerfehler gemacht wie viele andere. Ein Perspektivwechsel ist mir auch dank Helen Breit und Sandra Schwedler gelungen. Ich dachte immer, wenn zwanghaft eine Quote installiert wird, müsse man per Gesetzmäßigkeit auf jeden Fall Frauen suchen und sich unter Umständen in Bereichen umtun, in denen die nötige Qualität nicht vorhanden ist. Gleichzeitig würden qualifizierte Männer hinten runterkippen.
Und wie ist Ihr Blick darauf jetzt?
Mittlerweile bin ich der klaren Überzeugung, dass Diversität elementar ist. Je gemischter die Teams sind, desto besser ist das Ergebnis. Auch wenn der Entscheidungsprozess anstrengender ist. Durch eine freiwillige Eigenverpflichtung, diese unterschiedlichen Perspektiven integrieren zu wollen, werde ich initiativ und suche mir die Kompetenzen. Wenn ich sie nicht suche, finde ich sie nicht. Wenn ich Menschen einlade, weil ich es will, weil ich inhaltlich davon überzeugt bin und es mir deshalb sogar freiwillig zur Auflage gemacht habe, dann ist es kein Kurzzeiteffekt und Männer werden nicht benachteiligt. Sie sind Teil des Prozesses.
Dass unser Start mitten in der Krise des Deutschen Fußball-Bundes fiel, war reiner Zufall.
Ihnen geht es speziell um Frauen in Führungspositionen. Warum?
Ziel ist es, jahrzehntelang gewachsene Systeme zu durchbrechen, um eine zeitgemäße Führungskultur zu etablieren. Passend zu komplett veränderten Lebensrealitäten. Ohne eine Quote hat sich aber nichts getan, es gab keinerlei Entwicklung. Gerade die Führungsetagen im Fußball sind abgesperrte Systeme. Die Art der Kandidaten war für bestimmte Führungspositionen immer die gleiche. Es waren immer diejenigen, die schon mit ihren Vorvorgängern genetzwerkt haben. Es gab keine Möglichkeit, dort von außen einzusteigen, neue Perspektiven einzubringen.
2021 sind Sie mit dem Marie Juchacz-Frauenpreis, dem Frauenpreis das Landes Rheinland-Pfalz, ausgezeichnet worden. Was bedeutet Ihnen diese Anerkennung Ihrer Verdienste?
Zu Preisen und Auszeichnungen habe ich ein eher ambivalentes Verhältnis, weil sich gerade in unserer Branche viele gerne selbst feiern. Aber in diesem Fall habe ich es als Ehre empfunden, weil es um Solidarität und Sichtbarkeit geht. Die Botschaft ist, Frauen in unterschiedlichen Rollen zu stärken, und entsprechendes Engagement zu fördern. Das ist in meinem Fall gelungen (lacht).
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Wir fühlt es sich für Sie an, ein Vorbild für andere Frauen zu sein?
Gut, denn bei Vorbildern geht es darum, Sichtbarkeit zu erzeugen. Katja Kraus sagt immer sehr schön, dass sich ihre Töchter vorstellen können, Bundeskanzlerin zu werden, aber nicht Vereinspräsidentin oder Sportvorstand, einfach, weil sie das noch nie gesehen haben (lacht). Und das drückt es doch wunderbar aus.
Wann wird es Normalität sein, dass eine Frau das Finale eines Männerturniers im Fußball kommentiert?
Von der Zuspitzung auf das Finale würde ich abraten. Das ist das reine, plumpe Zeichen nach außen. Wir wollen doch dahin kommen, dass Frauen Spiele kommentieren und es keine Rede wert ist. Normalität ist das Ziel, keine Überhöhung. Das ist das Entscheidende.
Wichtig ist, dass alle, die das machen wollen, und von denen ihre Chefs denken, dass sie es können, die Chance erhalten, und zwar so selbstverständlich wie möglich. Das gilt für alle Tätigkeiten und Funktionen im Fußball. Genau so ist übrigens auch die Motivation meiner Kolleginnen von »Fußball kann mehr« begründet, die ja alle unterschiedliche Kompetenzbereiche im Fußball abbilden.
Frau Neumann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.