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England-Experte Johnny Ertl: »Die letzten Prozentpunkte erreichte ich durch mentales Training« [Gastbeitrag]

Lesedauer: 8 Minuten
© Achromatic Studios

Johannes »Johnny« Ertl, 39, gilt als langjähriger Profifußballer, TV-Experte und Ex-Vorstandsmitglied des FC Portsmouth als einer der Experten des englischen Fußballs. Der gebürtige Steirer über seine herausfordernde Zeit auf der Insel, Mentaltraining, Rückschläge, Leistungsdruck und seinen persönlichen Ritterschlag im Mutterland des Fußballs. Ein Gastbeitrag von Mentalcoach Wolfgang Seidl.

© Johannes Ertl

Herr Ertl, wie hat sich Ihr Leben nach Ihrer aktiven Karriere als Profifußballer verändert? Vermissen Sie es, inmitten von tausenden Fans am Platz zu stehen?

In meinem letzten Jahr als Profifußballer – 2015 bei Portsmouth FC – nahm ich ein leeres Blatt Papier und schrieb mir meine Visionen und Ziele für die kommenden Jahre auf. Ich wusste nicht, wohin die Reise geht, aber wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich die nächste. Zurückblickend sind alle Ziele in Erfüllung gegangen. Ich kann mich noch sehr gut an meine aktive Zeit erinnern, jedoch genieße ich es sehr, nicht mehr jedes Wochenende liefern zu müssen.

Es gibt mehr im Leben als nur Fußball, es geht um Erfahrungen.

Sollten sich Profis bereits während der aktiven Karriere, auf das Leben danach vorbereiten und parallel zum Fußball eine Ausbildung machen?

Es gibt mehr im Leben als nur Fußball, es geht um Erfahrungen. Ich durfte mich bei meiner ersten Station im Ausland – bei Crystal Palace – besser kennenlernen, verbrachte viel Zeit mit mir selbst und bildete mich weiter: neue Sprache, viele englische Bücher, Trainerschein, akademische Ausbildung zum Master of Business Administration, Kurse über Führungsqualitäten und viele Themen rund um das Bewusstsein und die mentale Ausgeglichenheit.

War der Abschied aus dem Profifußball dadurch leichter?

Definitiv, da ich einen größeren Horizont an Möglichkeiten für mich sah. Aber auch ich hatte unmittelbar nach dem Karriereende Probleme, damit zurechtzukommen. Durch diesen Prozess muss jeder durch, es ist eine Zeit der Selbstfindung. Viele Sinnfragen beschäftigten den Verstand, ich musste meinen Kompass neu kalibrieren.

© Johannes Ertl

Blick in die Vergangenheit: Welche Faktoren waren für Ihren Durchbruch im professionellen Fußball ausschlaggebend?

Ich spielte für mein Leben gerne Fußball. Ich musste mir aber alles selbst organisieren und erarbeiten, bin sehr früh selbstständig geworden. Mein Vater wollte nicht, dass ich Fußballer werde. Er sah mich vielmehr in der regionalen Bank. Ich konnte ihn allerdings überzeugen, dass ich mein Hobby zum Beruf machen will. Diesen Gedanken förderte er und ließ mich guten Herzens überall hinziehen, um meine Erfahrungen zu machen.

Das war mein persönlicher Ritterschlag im britischen Fußball.

War es Ihr Traum, Profifußballer zu werden?

Nein, es hat sich so ergeben, weil der Spaß am Fußballspielen so groß war. Meine Selbständigkeit, Ausdauer und Teamfähigkeit waren wesentliche Faktoren für meine lange Karriere im In- und Ausland. Neil Warnock – mein Manager bei Crystal Palace – meinte einst: »Johnny, you are like glue«, was so viel bedeutet wie »ich habe die Fähigkeit, die Mannschaft zusammenzuhalten«. Das war mein persönlicher Ritterschlag im britischen Fußball.

© Johannes Ertl

Wie entscheidend waren dabei Ihre mentalen Fertigkeiten?

In Österreich beschäftigte ich mich kaum mit mentalen Fähigkeiten und meinem inneren Bewusstseinszustand. In England jedoch war die Intensität des Spiels und der Druck, liefern zu müssen, um einiges höher. Zudem war ich einer von drei »Ausländern« in unserem Team. Ich musste besser sein als die heimischen Spieler, sonst hätte mich der Trainer nie aufgestellt. Fußballerisch war ich ebenbürtig, manche physischen Mängel wurden in den ersten Monaten ausgeglichen. Und doch fehlte mir etwas: die letzten zehn Prozent. Es spielte sich alles nur im Kopf ab. Die letzten und wichtigsten Prozentpunkte meiner persönlichen Leistungsfähigkeit erreichte ich durch mentales Training.

Um eine Person besser zu verstehen, braucht es Zeit, das passiert nicht in zwei, drei Gruppensitzungen.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Ich begann, Spiele zu visualisieren und stellte mir vor, wie ich vor vollem Publikum im Selhurst Park (Stadion des Crystal Palace FC; Anm. d. Red.) eine gute Aktion mache, wie sich das anfühlt. Ich manifestierte solche Szenen und Gedanken mit einer kurzen Meditation – jeweils am Abend sowie am Vormittag vor jedem Spiel. Ich schrieb mir alle wichtigen Details, meine Gefühle und Aufgaben des Trainerteams auf einen Zettel, den ich immer bei mir im Trainingsanzug hatte. Das war mein persönlicher Durchbruch im Team. Ab diesem Zeitpunkt war ich, aus der Startelf nicht mehr wegzudenken.

Haben Sie während Ihrer aktiven Karriere je mit einem Mentalcoach oder Sportpsychologen zusammengearbeitet?

Nein, wir hatten zwar bei Sturm Graz und Sheffield United einen Mentalcoach, aber das brachte kaum was. Mir fehlte damals der individuelle Ansatz. Jeder Spieler hat einen eigenen Charakter und ist anders. Um eine Person besser zu verstehen, braucht es Zeit, das passiert nicht in zwei, drei Gruppensitzungen. Wir sprechen von einem Vertrauensverhältnis, das sich langsam und stetig aufbaut.

© Johannes Ertl

Hätte Ihnen professionelle mentale Unterstützung weitergeholfen?

Ich bin froh, dass ich meine mentale Stärke intrinsisch aufgebaut habe. Der Weg, das zu begreifen, war hart und lang, aber dann konnte mich nichts mehr so leicht aus der Bahn werfen. In einer so schnelllebigen Industrie wie dem Fußball ist eine mentale Betreuung und Unterstützung ein wertvolles Gut.

Was waren die größten Herausforderungen in Ihrer Karriere?

Es war der Verlust meines Bruders als ich bei Austria Wien unter Vertrag stand. Drei Tage nach seinem Begräbnis spielten wir im UEFA-Cup gegen Ajax Amsterdam. Ich war in der Startelf und kam mir wie im falschen Film vor. Nur der Trainer und die Mannschaft wussten davon. Ich wollte es niemanden erzählen, kein Mitleid und nicht, dass die Öffentlichkeit davon Wind bekommt und darüber berichtet. Es dauerte einige Zeit, bis ich wieder in meine Spur fand.

Ja, ich wollte unbedingt auf der Insel bleiben, denn ich hatte noch ein »unfinished business«.

Gab es weitere Rückschläge?

Die nächste große Herausforderung war der Schritt von Österreich nach England. Ich spielte bei Crystal Palace sechs Monate keine Rolle und verlor meinen Platz im Nationalteam, keiner interessierte sich mehr für mich. Diese Zeit war hart, aber zurückblickend sehr reinigend. Ich durfte mich selbst kennenlernen. Ein weiterer Schlag war meine zweite Kreuzbandverletzung bei Sheffield United. Leichte Depressionen im Norden Englands und der Abstieg mit einem der ältesten Vereine der Welt waren für mich ein echtes »Low« in meiner Karriere. Danach suchte ich eine neue Herausforderung.

In England?

Ja, ich wollte unbedingt auf der Insel bleiben, denn ich hatte noch ein »unfinished business«. Ich wollte Kapitän einer britischen Mannschaft sein und tatsächlich: es kam die beste Zeit bei meinem Herzensverein Portsmouth FC.

© Johannes Ertl

Ist das richtige Mindset entscheidend, wenn es zu scheinbar unüberwindbaren Hürden kommt?

Jede Hürde ist überwindbar, vielleicht nicht beim ersten Anlauf, aber dafür beim zehnten. Wenn es nicht funktioniert, gib es andere Wege, um an sein persönliches Ziel zu kommen. Ich versuche mit viel Ausgeglichenheit und Verständnis an Herausforderungen heranzugehen und arbeite tagtäglich daran.

Laut einer aktuellen Studie aus Deutschland stehen lediglich 3,5 Prozent der Jugendlichen, die ein U19-Team der ersten, zweiten oder dritten Liga durchlaufen haben, heute im Kader eines Bundesligisten. Was sind die größten Hindernisse auf dem Weg zum Profi? Kann eine präventive mentale Vorbereitung den Weg erleichtern?

Der Leistungsdruck ist in vielen Bereichen größer geworden. Aufgrund der Professionalisierung der Fußballklubs im Jugendbereich, dem Ausbildungsehrgeiz der Akademien und der dadurch entstehenden Erwartungshaltung im sozialen Umfeld der Jugendlichen ist ein präventiver mentaler Ansatz notwendig. Es geht um die Förderung einzelner Talente abseits des Fußballs.

Wer an die Spitze kommen will und sein Niveau über Jahre halten möchte, wird über mentales Training nicht mehr hinwegkommen.

Der Fußball hat sich in den letzten Jahren spielerisch und taktisch enorm weiterentwickelt. So investieren Vereine hohe Geldbeträge in die Sportwissenschaft, Trainingssteuerung oder Spielanalyse. Der mentale und psychologische Bereich wird hingegen noch immer vernachlässigt. Woran liegt das?

Es hat sich bereits sehr viel getan in diesem Bereich. Viele Trainer und Spieler arbeiten mit Mentaltrainern, die nicht direkt im Vereinsumfeld agieren. Es gibt im Sport zahlreiche große Persönlichkeiten, die Außergewöhnliches schaffen. Wenn man sich mit diesen Athleten näher beschäftigt, erkennt man, dass es sich um keine Zufälle handelt und die mentale Arbeit eine zentrale Rolle einnimmt. Wer an die Spitze kommen will und sein Niveau über Jahre halten möchte, wird über mentales Training nicht mehr hinwegkommen.

Hans-Dieter Hermann, Sportpsychologe der deutschen Nationalmannschaft, predigt schon lange, dass der Kopf die Steuereinheit und ein guter Ansatzpunkt für Leistungssteigerung ist. Das scheint bei den meisten Verantwortlichen noch nicht angekommen zu sein. Geben Trainer ungern Kompetenzen ab?

Nein, das hat nichts mit dem Abgeben von Kompetenzen zu tun. Vielmehr wäre es wichtig, allen Trainern und Betreuern die Möglichkeit zu geben, sich mit diesem Thema selbst auseinanderzusetzen. Das muss nicht in der Arbeit passieren. Der Kopf als Steuereinheit kann auch zuhause mit seiner Familie trainiert werden. Sobald man persönliche Erfolgserlebnisse gemacht hat, ist es einfacher diese zu teilen und weiterzugeben.

© Achromatic Studios

Der ehemalige Arsenalprofi Per Mertesacker schreibt in seinem Buch von körperlichen Beschwerden, ausgelöst durch mentale Belastung. Wie sind Sie mit diesem Leistungsdruck umgegangen?

Mein Ausgleich war und ist die Natur. Die Natur beantwortet mir alle Fragen. Ein bewusster Sparziergang durch den Wald oder damals an Englands Küste brachte mich immer in meine Mitte und erdet mich bis heute.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Werden wir Sie demnächst bei einem Fußballklub sehen?

Ich beschäftige mich derzeit sehr mit dem Thema Nachhaltigkeit, persönlicher Entwicklung und dem Bewusstsein. Wenn die Zeit gekommen ist, kann ich es mir sehr gut vorstellen, meine Energie in ein Vereinsumfeld zu geben.

Herr Ertl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Wolfgang Seidl

Mentalcoach & Teamentwickler

In seiner Arbeit als Mentalcoach betreut Wolfgang Seidl neben Unternehmen und Führungskräften vor allem Sportler im Einzelcoaching. Dazu zählen zum Beispiel der mehrfache IRONMAN-Sieger Michael Weiss, die Boxweltmeisterin Eva Voraberger sowie Fußballer aus der Bundesliga. Zusätzlich berät er auch Mannschaften in Form von Workshops und Coachings.

|www.mana4you.at

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